Angemessener Kundennutzen in der Lebensversicherung: Neue Referenzwerte zielführend?
Die Diskussion um den „angemessenen Kundennutzen“, das heißt ein angemessenes Preis-Leistungs-Verhältnis („Value for Money“), in der Lebensversicherung hält an. Sie war ein Schwerpunkt auf den Jahreskonferenzen der deutschen und der europäischen Versicherungsaufsichten im November 2024.1 Branchenvertreter*innen sehen die vorgeschlagenen Präzisierungen zur Messung des „angemessenen Kundennutzens“ mittels Referenzwerten kritisch. Der BdV antwortet hierauf.
Das Wichtigste auf einen Blick:
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Aufsichtsdefizite erkannt: Die BaFin bemängelt hohe Effektivkosten, hohe Stornoquoten und intransparente Rückvergütungen bei Lebensversicherungen, die den Kundennutzen beeinträchtigen.
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Neues Bewertungsverfahren: Mit Referenzwerten („Value for Money Benchmarks“) sollen Aufsichtsbehörden den Kundennutzen von Lebensversicherungen anhand von Kosten- und Renditeindikatoren objektiv messen und bewerten.
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Kritik der Versicherer: Die Branche lehnt eine öffentliche Preisregulierung, die Verknüpfung mit Produktfreigabeverfahren und europaweite Standards ab, befürchtet Wettbewerbsnachteile und verweist auf qualitative Faktoren wie Garantien und Sicherheitsbedürfnisse.
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Verbraucherperspektive: Der BdV fordert eine Verschärfung der Aufsicht, Transparenz durch Veröffentlichung von Vergleichswerten und bessere Kontrolle der Kostenstruktur, um Kundennutzen nachhaltig zu sichern und fragwürdige Praktiken einzudämmen.
Aufsichtlich festgestellte Missstände
Bereits im vergangenen August hatte die Chefin der deutschen Versicherungsaufsicht, Julia Wiens, deutlich zum Ausdruck gebracht, dass sie vor allem in drei Bereichen Missstände bei den aktuellen Angeboten zur Lebensversicherung sieht2:
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Zu hohe Effektivkosten, die es unmöglich machen, mit hinreichender Wahrscheinlichkeit die angegebenen Renditeziele zu erreichen;
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Zu hohe Stornoquoten, die vermuten lassen, dass die notwendigen Zielmarktbestimmungen nicht präzise genug waren – von der übermäßigen Kostenbelastung in den ersten Jahren nach Vertragsabschluss einmal abgesehen;
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Fragwürdige Rückvergütungen bei Fondspolicen, die von den Fondsgesellschaften zusätzlich an die Vertriebe (neben den üblichen Provisionen von den Versicherern) überwiesen und ebenfalls aus den Prämien der Kund*innen gezahlt werden, ohne dass ein zusätzlicher „Kundennutzen“ erkennbar wäre.
Diese Aussagen wurden durch eine zeitgleich von der BaFin veröffentlichte Studie gestützt, in der diese Missstände und mögliche Reaktionen durch aufsichtliche Prüfungen nachgewiesen wurden.3 Natürlich ließ die Antwort von Seiten der Versicherer nicht lange auf sich warten: Es sei zwar richtig, sich „Ausreißer“ bei Effektivkosten und Stornoquoten genauer anzuschauen, aber dennoch dürfe „kein Schatten auf die gesamte Branche geworfen“ werden.4
Damit dürfte deutlich geworden sein, dass einer der zentralen Punkte in dieser öffentlichen Diskussion die Zielgenauigkeit und Validität bei der Messung des „angemessenen Kundennutzens“ von Lebensversicherungen ist. Hierfür hat die europäische Versicherungsaufsicht vor Kurzem ein spezielles Werkzeug vorgestellt: die Nutzung von Referenzwerten („Value for Money Benchmarks“).5
Aufsichtliches Verfahren für Referenzwerte
Dieses Verfahren soll den nationalen Aufsichtsbehörden eine Hilfestellung geben, um den Kundennutzen vorrangig von fondsgebundenen und hybriden Lebensversicherungen messen zu können. Das Verfahren gliedert sich in drei Schritte:
1. Bildung von Gruppen („clusters“) nach gemeinsamen Produktmerkmalen von Lebensversicherungen:
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Produktkategorie (fondsgebunden, hybrid mit Anlagestrategie individuell festgelegt durch den Versicherungsnehmer oder vorab festgelegt durch den Versicherer).
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Art der Prämienzahlung (einmalig oder regelmäßig),
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Vertragsdauer („empfohlene Haltedauer“),
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Abdeckung biometrischer Risiken (z. B. Anteil des Todesfallschutzes an der Gesamtprämie),
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Anlageklassen (Aktien, Fonds, Anleihen o. a.),
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Risikoindikator (Einstufung entsprechend den Gesamtrisiko-Indikatoren SRI der Basisinformationsblätter).
2. Festlegung der Indikatoren für die Berechnung des Kundennutzens:
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Abschlusskosten (sowohl anteilig an der Gesamtprämie wie an den Gesamtkosten),
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Gesamtkosten (anteilig an Gesamtprämien),
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Renditeminderung (entsprechend Basisinformationsblättern),
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Rückkaufswert
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Interner Zinsfuß (IRR - „Internal Return Rate“),
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Leistung bei Todesfall o. a. biometrischen Risiko,
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„Break-even-return“: jährliche durchschnittliche Rendite, die notwendig ist, damit die Wertentwicklung des Sparanteils positiv wird und alle eingerechneten Kosten übersteigt.
3. Bewertung der Ergebnisse entsprechend den Referenzwerten:
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Die Bewertung beruht auf der Einteilung aller kalkulierten Ergebnisse in Quartile, das heißt, alle Ergebnisse werden in vier möglichst gleich große Gruppen eingeteilt, sozusagen vom besten über zwei mittlere bis ins schlechteste Viertel.
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Dabei soll die aufsichtliche Bewertung als Risiko für den Kundennutzen generell ab dem dritten Quartil beginnen, beim Rückkaufswert, dem internen Zinsfuß und der Leistung im Todesfall sogar schon ab dem zweiten Quartil.
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Darüber ist es den nationalen Aufsichtsbehörden freigestellt, zusätzliche Merkmale („non-clustering features“) zu berücksichtigen, die eventuell höhere Kosten rechtfertigen können wie etwa:
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Bruttobeitragsgarantien mindestens ab 80 Prozent
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Möglichkeit für garantierte Kapitalauszahlungen vor Vertragsablauf,
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spezielle Risikominderungstechniken wie Lebenszyklusstrategie,
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Stornoquoten und Stornogebühren.
Grundlage für die Berechnung der Referenzwerte sollen die Daten sein, die bereits für den jährlich zu erstellenden EIOPA-Bericht zu Kosten und Wertentwicklungen von Lebensversicherungen6 erhoben werden (neben den Basisinformationsblättern). Für die Unternehmen sollen also keine zusätzlichen Belastungen entstehen.
EIOPA betont darüber hinaus, dass diese Methode für die Erstellung und Berechnung der Referenzwerte zusammen mit den nationalen Aufsichtsbehörden laufend überprüft und erst nach einer ausreichenden Testphase auch für die Versicherer veröffentlicht werden soll. Sie betrachtet sie als Teil der nach der Vertriebsrichtlinie IDD notwendigen Produktfreigabe- und –überprüfungsverfahren („Product Governance and Oversight“) für Versicherungsanlageprodukte, deren Vorgaben präzisiert werden sollen.7
Kritik durch die Versicherungsbranche
Mittlerweile liegen Stellungnahmen von Verbänden der Versicherer vor, die unter anderem folgende Kritikpunkte betonen. Die Referenzwerte
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sollen zu keiner „Preisregulierung“ führen (etwa durch weitergehende EU-Rechtsakte auf den Ebenen 2 und 3),
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sollen nicht öffentlich gemacht werden,
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sollen nicht mit dem Produktfreigabeverfahren verknüpft werden,
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sollen nur zur Identifizierung von „signifikante Ausreißern“ genutzt werden,
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sollen sowohl quantitative als auch qualitative Merkmale von Produkten berücksichtigen.8
Der deutsche Versichererverband GDV fordert darüber hinaus, dass europäische Referenzwerte nur für grenzüberschreitende Produkte angewendet werden sollen, für alle anderen lediglich nationale Grenzwerte.9 Die Ratingagentur Assekurata moniert, dass nicht nur auf Rendite, sondern auch auf Garantien und das dahinter stehende „Sicherheitsbedürfnis“ von Kunden geachtet werden sollte. Zudem könnten Renditen über der Inflation vor allem durch weltweit anlegende Aktienfonds erreicht werden (was aber dem Ziel der Stärkung der Europäischen Kapitalmarktunion widerspräche). Und auch die Beratungsdienstleistung vor und während der Vertragslaufzeit sollte demnach mit berücksichtigt werden.10
Aus Verbrauchersicht erscheinen diese Kritikpunkte aber als weitgehend unsinnig beziehungsweise irreführend, wie an folgenden Punkten gezeigt werden kann:
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So ist etwa die Verknüpfung von qualitativen und quantitativen Kriterien allein schon deshalb gegeben, weil die Referenzwerte ja nur dazu dienen sollen, die bereits seit langem von EIOPA und der BaFin publizierten qualitativen Kriterien für den angemessenen Kundennutzen zu präzisieren (Produkteigenschaften, Zielmarktbestimmung, Stornoquoten, Frontlastigkeit von Abschlusskosten, Vergütungsspreizung und Beratungsaufwand, Rückvergütungen bei Fondspolicen u. a.).11
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Die Forderung, die Referenzwerte nicht mit dem Produktfreigabeverfahren zu verknüpfen ist schlicht weg unsinnig. Denn letzteres dient ja gerade dazu, zum Beispiel durch Wertentwicklungsszenarien vor und nach der Markteinführung eines Produktes laufend zu überwachen, ob die angestrebten Zielmarktbestimmungen und Renditeziele eingehalten beziehungsweise erreicht werden. Diese Forderung seitens der Versicherer kann deshalb sogar gegen die gesetzlich festgelegten Bestimmungen des Artikel 25 der IDD verstoßen.
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Wenn die BaFin feststellt, dass bei bestimmten Produkten Stornoquoten von bis zu 50 Prozent des Bestandes nach einigen Jahren erreicht werden, kann das doch nur heißen, dass die Zielmarktbestimmung vollkommen ungenügend ist und etwa die exakte Abwägung von Rendite versus Sicherheitsbedürfnis bei den Kunden eben nicht vorgenommen wurde.
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Genauso unsinnig ist es, wenn behauptet wird, die Referenzwerte würden zu einer „Preisregulierung“ führen. Die Referenzwerte bewirken ja nur einen Vergleich von Kosten und Wertentwicklungen innerhalb eines „cluster“ oder einer „peer group“ von Produkten, sind also relativ und nicht absolut. Außerdem sollen die Referenzwerte nicht öffentlich gemacht werden, sodass nur die Aufsicht und das jeweilige betroffene Unternehmen die exakte Höhe der Referenzwerte kennen. Auf diese Weise kann gar kein branchenweiter, öffentlich verfolgbarer „Preiskampf“ stattfinden. Diese Geheimhaltung ist in der gemeinsamen Stellungnahme von Better Finance und dem Bund der Versicherten e. V. genau deswegen kritisiert worden.
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Geradezu absurd erscheint das Argument, dass die Referenzwerte bewirken könnten, dass europäische Lebensversicherte aus Renditegründen vorrangig außerhalb von Europa ihren Sparanteil anlegen würden. Das könnte wohl nur eintreten, wenn die Lebensversicherer in ihrem Fondsangebot nicht ausreichend qualitativ hochwertige europäische Aktienfonds integrieren. Ansonsten muss gesagt werden, dass die Ursachen für die schwächere Wirtschaftsentwicklung der EU im Vergleich insbesondere zu den USA ganz andere, eher „hausgemachte“ Gründe hat, wie sie in den umfassenden Analysen der Berichterstatter Enrico Letta und Mario Draghi aus diesem Jahr nachzulesen sind.12
Fazit
Die von den Verbänden der Versicherer unter anderem genannten Kritikpunkte erscheinen als vollkommen überzogen und geradezu irreführend. Sie scheinen in erster Linie das Ziel zu verfolgen, dieses Konzept und seine Methoden so zu verwässern, dass sie unbrauchbar werden. Dabei gibt es ganz klare, objektiv nachweisbare Daten, die – wie eingangs dargestellt – zeigen, dass es sehr wohl zu massiven Fällen von Schädigung des angemessenen Kundennutzen kommt.
Aus Verbrauchersicht sollte das bestehende Konzept der Aufsichtsbehörden nicht nur beibehalten, sondern sogar verschärft werden: im Sinne von Veröffentlichung der Referenzwerte, Einführung absoluter Vergleichswerte (etwa gegenüber ETFs-Werteentwicklung), Offenlegung der Prämientrennung in Sparanteil, Verwaltungs- und Vertriebskosten und gegebenenfalls biometrische Kosten, Analyse nicht nur der Anspar-, sondern auch der Auszahlphase u. a.13 Die Aufsichtsbehörden dürfen den aufgezeigten disruptiven Bestrebungen von Seiten der Versicherungsbranche nicht nachgeben und sollten die „Wohlverhaltensaufsicht“ vor allem aus Sicht der Kund*innen intensivieren.
1 BaFin-Jahreskonferenz am 20.11.2024 in Bonn:
EIOPA Annual Conference am 21.11.2024 in Frankfurt/Main:
https://www.eiopa.europa.eu/smarter-simpler-stronger-insurance-and-pensions-future-2024-11-21_en
2 „Sorgen Sie für einen angemessenen Kundennutzen“. Rede von Julia Wiens, Exekutivdirektorin Versicherungs- und Pensionsfondsaufsicht, beim Handelsblatt Strategiemeeting Lebensversicherung.
BaFin-Website vom 27.08.2024:
"Schwerpunkte der Versicherungsaufsicht 2025". Rede von Julia Wiens, Exekutivdirektorin Versicherungs- und Pensionsfondsaufsicht, bei der Jahrestagung der Versicherungsaufsicht am 20.11.2024 in Bonn:
3 Kundennutzen im Fokus. BaFin-Journal vom 27.08.2024:
4 Value for Money: Leistungspaket der Lebensversicherung, GDV-Website vom 29.08.2024:
https://www.gdv.de/gdv/themen/leben/value-for-money-leistungspaket-der-lebensversicherung-181834
5 EIOPA presents its value for money benchmark methodology for unit-linked and hybrid insurance products, Press Release of 7 October 2024, and related documents:
6 EIOPA's Costs and Past Performance Report December 2023:
https://www.eiopa.europa.eu/publications/eiopas-costs-and-past-performance-report-december-2023_en
7 vgl. hierzu insbesondere die beiden EU-Delegierten Verordnungen vom 21. September 2017:
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DVO (EU/2017/2358) zu den Aufsichts- und Lenkungsanforderungen für Versicherungsunternehmen und Versicherungsvertreiber;
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DVO (EU/2017/2359) zu den für den Vertrieb von Versicherungsanlageprodukten geltenden Informationspflichten und Wohlverhaltensregeln.
8 Insurance Europe: Key messages for the EU trilogues on the Retail Investment Strategy (RIS) of 02-10-2024
9 GDV am 10.09.2024: Comment on the trilogue negotiations to the Retail Investment Strategy:
10 Assekurata-Pressemitteilung zum "Value-for-Money"-Ansatz vom 18.11.2024:
11 vgl. EIOPA Supervisory statement on assessment of value for money of unit-linked insurance products under product oversight and governance of 30 November 2021:
Angemessener Kundennutzen: BaFin veröffentlicht Merkblatt zu kapitalbildenden Lebensversicherungen, BaFin-Website vom 08.05.2023:
12 Enrico Letta's Report on the Future of the Single Market of 10 April 2024:
The future of European competitiveness: Report by Mario Draghi of 09 September 2024:
13 Gemeinsame Stellungnahme von BdV und BF zur VfM Methodology, 15 März 2024:
oder: https://www.bundderversicherten.de/de/gut-vertreten/stellungnahmen
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Stellungnahme von BdV und BETTER FINANCE zur VfM Methodology