Was läuft schief bei Proxalto?
Der Lebensversicherer Proxalto macht aktuell von sich reden. Immer mehr Kund*innen beschweren sich, weil sie auf die Auszahlung Ihrer Renten warten. Was bei Proxalto los ist und was betroffene Verbraucher*innen tun sollten, erläutert BdV-Vorstand Stephen Rehmke im Interview.
Wir lesen über eine Vielzahl von Beschwerden von Verbraucherinnen und Verbrauchern über die Proxalto Lebensversicherung AG. Was ist da los?
Stephen Rehmke (SR): Ziemliches Chaos. Kundinnen und Kunden des Unternehmens bekommen die versprochenen Leistungen aus ihren Lebensversicherungen nicht ausgezahlt. Fragen sie nach und erinnern, gibt es erst keine Reaktion und dann folgen hinhaltende, unrichtige und oft fachlich unqualifizierte Antworten.
Solche Verzögerungen haben teils heftige Auswirkungen. Die Kundinnen und Kunden warten auf Sterbegelder für würdevolle Beerdigungen, sie brauchen die Summe als Eigenkapital für die Immobilienfinanzierung und sie erwarten Renten, die plötzlich eingestellt werden oder die sie nicht bekommen, weil schlicht keine Leistungsprüfung vorgenommen wird.
Die Leute haben Verträge geschlossen, ihren Teil der Abmachung eingehalten und sind darauf angewiesen, dass sie ihre vertraglich zugesicherten Ansprüche in dringenden und zeitkritischen Situationen geltend machen können. Das sind unmögliche Zustände!
Proxalto Lebensversicherung – das ist jetzt kein so geläufiger Name. Wer ist das überhaupt?
SR: Proxalto ist ein deutsches Lebensversicherungsunternehmen, aber tatsächlich wenigen bekannt, im Zweifel auch einigen Versicherten des Unternehmens nicht. Ähnlich verhält es sich mit der Muttergesellschaft – der Viridium AG. Die gehört einem Konglomerat aus Generali, der Hannover Rück und Cinven, einem Private Equity Unternehmen aus London. Die gesamte Gruppe dürfte allerdings knapp 5 Millionen Verträge verwalten, ist also gar nicht so klein.
Und warum schließen Menschen dort Verträge ab?
SR: Machen sie ja gar nicht. Die Viridium Gruppe verfolgt ein besonderes Geschäftsmodell. Sie übernimmt Altverträge von den herkömmlichen Lebensversicherern, die kein wirtschaftliches Interesse mehr an diesen Verträgen haben und sie loswerden wollen. Der Bestand wird dann von dem neuen Versicherer abgewickelt.
Die Versicherungsbranche nennt das Manöver Run-Off. Die Kundinnen und Kunden werden nicht gefragt, manchmal noch nicht einmal vernünftig informiert; jedenfalls haben sie keine Möglichkeit, sich gegen ihren neuen Vertragspartner zu entscheiden.
Was bedeutet „abgewickelt“?
SR: Abwicklung bedeutet, dass die Versicherer in einem bestimmten Versicherungsbereich keine geschäftliche Zukunft mehr für sich sehen. Viele Versicherer ächzen unter ihren hohen Renditeversprechen, einer hoffnungslos veralteten IT und neuen europäischen Vorgaben zur Eigenkapitalausstattung. Sie wollen das Ganze möglichst verlustarm beenden.
Das Neugeschäft wird eingestellt und der Bestand nur noch verwaltet und manchmal auch veräußert. Bei einem solchen externen Run-Off kaufen Investoren die Altbestände des Versicherers und übernehmen damit auch sämtliche Rechte und Pflichten. Sie müssen den Garantiezins zahlen und die Kundschaft auch an den Überschüssen beteiligen.
Welches Interesse haben die Run-Off-Unternehmen an den alten Beständen?
SR: Die Run-Off-Unternehmen kaufen die Bestände meist sehr günstig ein. Sie setzen auf moderne IT-Systeme und wenig Personal. Und da sie keine Neuverträge anbieten, entfallen Ausgaben für Produktentwicklung sowie Abschluss und Vertrieb. Die Kosten sind fix und auch die Zahlungseingänge der Versicherten weitestgehend verlässlich, so können die Run-Off-Gesellschaften im Prinzip auch geschickter an Kapitalmärkten agieren. Wenn alles klappt, winken satte Gewinne.
Könnte das nicht auch Vorteile für Versicherte bringen?
SR: Tatsächlich kann es für die Kundinnen und Kunden unterm Strich besser sein, den Vertrag von einer Run-Off-Gesellschaft abgewickelt zu bekommen, als hoffnungslos auf dem Abstellgleis des alten Versicherers zu stehen. Als die besseren Kapitalanleger haben sich Run-Off-Spezialisten bisher nicht erwiesen. Aber die höheren Überschüsse aus der schlankeren Bestandsverwaltung kommen auch den Versicherten zugute. Letztlich kommen sie aber vom Regen in die Traufe.
Warum? Was müssen Versicherte beim Run-Off befürchten?
SR: Um die Effizienz einer neuen IT oder gegebenenfalls auch einer Kapitalanlage voll nutzen zu können, brauchen die Run-Off-Gesellschaften zunächst viele Verträge. Dafür benötigen sie aktuell ein gutes Image, um bei den Verkäufern und auch der Aufsichtsbehörde BaFin, die solchen Geschäften zustimmen muss, nicht auf Ablehnung zu stoßen.
Irgendwann ist der notwendige Bestand aber erreicht und der Markt auch abgegrast. Der Bestand sinkt und die Kosten pro Einzelvertrag werden wieder höher. Gleichzeitig wollen die Investoren Kasse machen. Dann kehrt sich die Geschäftspolitik. Die Beteiligungen der Kundschaft an Überschüssen können auf das gesetzlich vorgeschriebene Minimum herunterfahren werden und auch der Kundenservice bekommt einen geringeren Stellenwert. Ihr Ansehen kann den Abwicklungsgesellschaften in dem Moment egal sein.
Aber wie passt dann die aktuelle Situation bei Proxalto ins Bild?
SR: Eigentlich gar nicht. Es ist ein massiver Reputationsschaden. Offensichtlich ist Viridium selbst überrascht, in welchem Zustand die Datenbestände sind, die sie von der Generali übernommen haben. Das moderne IT-System ist jedenfalls überfordert und der Kundenservice überlastet. Wir beobachten das nicht zum ersten Mal. Es wirft ein bezeichnetes Licht auf die Branche und die Frage, was die Lebensversicherer eigentlich mit den Kundengeldern gemacht haben. Vorrang hatte offensichtlich der Vertrieb und nicht die ordentliche Vermögens- und Vertragsverwaltung.
Ist das Verhalten von Proxalto nicht ein Thema für die Aufsichtsbehörde BaFin?
SR: Die Aufgabe der Finanzdienstleistungsaufsicht ist es, eine solche Transaktion im Vorfeld sorgfältig zu prüfen und im Zweifel zu untersagen. Nach ihren eigenen Bekundungen kontrolliert sie dabei nicht nur, ob der neue Versicherer über ausreichende Kapitalmittel und hinreichendes Risikomanagement verfügt, sondern insbesondere auch, ob er den Bestand angemessen verwalten kann und über die erforderliche Organisation und technische Ausstattung verfügt.
Wie äußert sich die BaFin zum konkreten Fall?
SR: Es wäre eigentlich zu erwarten, dass die Aufsicht den Fall hartnäckig aufklärt und den Bürgerinnen und Bürgern über die Ergebnisse transparent berichtet. Bisher hat sie sich bedeckt gehalten und lediglich einen Artikel mit dem Titel „Wenn Versicherer nicht rechtzeitig zahlen“ veröffentlicht, allerdings ohne Proxalto namentlich zu erwähnen.
Dort ist unter anderem zu lesen, dass bei ablaufenden oder gekündigten Lebens- oder Rentenversicherungen keine umfangreiche Leistungsprüfung erforderlich ist, sondern der Versicherer die Zahlung zu dem vereinbarten Termin vornehmen muss. Dort werden auch die Sanktionsmöglichkeiten geschildert, die der BaFin zur Verfügung stehen, wenn der Versicherer es nicht schafft, Rückstande schnellstmöglich auszugleichen.
Nach Ansprachen und Ermahnungen kann die BaFin irgendwann „verwaltungsrechtliche Zwangsmittel“ einsetzen – zum Beispiel ein Zwangsgeld. Liest man den Text, wird allerdings klar, dass zunächst einige Zeit ins Land geht, bis wirklich etwas passiert. Das und der abschließende Hinweis an Versicherte, sich im Beschwerdefall immer zuerst an den Versicherer zu wenden, ist für Proxalto-Kundinnen und -Kunden, die auf ihr Geld warten, wenig hilfreich.
Was können die Kundinnen und Kunden von Proxalto jetzt tun?
SR: Die Situation ist ein Alarmzeichen. Als Versicherter mit noch langer Vertragslaufzeit sollte man ernsthaft überlegen, ob man seine Anlageziele nicht mit anderen Geldanlagen weiterverfolgen sollte, etwa mit einem kostengünstigen ETF-Sparplan. Über solche Alternativen, aber auch die Nachteile, die mit einer Vertragskündigung einhergehen können, etwa dem Verlust eines Todesfall- oder Berufsunfähigkeitsschutzes, sollte man sich unabhängig beraten lassen. Das macht im Zweifel nicht der „Finanzcoach“, dem sie diesen Vertrag zu verdanken haben. Mitglieder des BdV können sich hierzu an unsere Beraterinnen und Berater wenden.
Betroffene, die jetzt auf ihr Geld warten, sollten sich wehren. Sie sollten den entstandenen Verzugsschaden geltend machen und sich beim Versicherungsombudsmann und der BaFin beschweren. BdV-Mitglieder können uns ihren Fall melden. Wir kümmern uns um ihre Forderungen.
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