3.2.2022

Obstkunde in der BU-Versicherung: Studie zur Schaden- und Leistungsregulierung wirft Fragen auf

Co-Autorin: Sandra Klug, Leiterin der Abteilung Geldanlage, Altersvorsorge, Versicherungen der Verbraucherzentrale Hamburg.

Versicherungen gelten als sog. „Vertrauensgüter“, da ihre Qualität – bspw. bzgl. des Leistungsverhaltens – selbst nach dem Kauf durch Versicherungsnehmer nicht sicher festgestellt werden kann. Das Ausmaß dieser Unsicherheit schwankt naturgemäß auch spartenabhängig – so dürfte der Schleier der Unwissenheit bei einer Versicherung gegen Berufsunfähigkeit (BU) deutlich blickdichter als etwa in der Kfz- oder privaten Haftpflichtversicherung sein, wo sich ein Leistungsfall i.d.R. klarer definieren lässt.

Informationsvorsprung und Produktqualität

Anhand des Gebrauchtwagenmarktes hatte ehedem der Ökonom George Akerlof, Träger des Alfred-Nobel-Gedächtnispreises für Wirtschaftswissenschaften (2001), die negativen Folgen einer Ausgangssituation aufgezeigt, in der die Verkäufer einen (vorvertraglichen) Informationsvorsprung hinsichtlich der Produktqualität gegenüber den Käufern haben: Da die potenziellen Käufer nicht erkennen können, ob ein offeriertes Auto von minderer Qualität (Akerlof nennt diese Montagsautos ‚Zitronen‘) oder von hoher Qualität (lt. Akerlof ein ‚Pfirsich‘) ist, sind sie nicht bereit, mehr als einen Durchschnittspreis zu zahlen. Als Konsequenz werden die hochqualitativen Produkte – also die ‚Pfirsiche‘ – aus dem Markt verdrängt.

Bei gedanklicher Übertragung einer solchen Negativauslese auf den BU-Markt (dort besteht kundenseitig ggf. zwar ein Informationsvorsprung zum Gesundheitsstatus, aber eben auch ein gewisses Maß an Unsicherheit bzgl. der anbieterabhängigen Qualität der Leistungsregulierung) ist man leicht versucht, die Versicherungsnehmer mit der Plattitüde zu trösten, sie könnten doch aus den etwaig verbleibenden Zitronen eine wohlschmeckende Limonade machen. Aber wie lange verdrängt das wohl die existentiellen Sorgen und Nöte einer Berufsunfähigkeit?

Signale zur Produktqualität

Als ein probates Mittel zur Abhilfe gilt gemeinhin das Senden von Signalen zur Produktqualität. Demnach liegt es im Eigeninteresse der Anbieter guter Produkte, sich gegenüber den Käufern glaubwürdig von den Anbietern schlechter Produkte abzugrenzen. Versicherer können diese Signale u.a. über Qualitätssiegel, Auszeichnungen oder Zertifikate an ihre Kunden senden.

Ein solches zur Beseitigung der Unsicherheit beitragendes Signal möchte sicher auch die von der ServiceValue GmbH im Dezember 2021 und damit bereits zum fünften Mal (in Kooperation mit der Zeitschrift Focus-Money) durchgeführte Untersuchung „Schaden- und Leistungsregulierung von Versicherern“ senden, indem basierend auf einer repräsentativen Onlinebefragung aus den Kundenurteilen zur Leistungsregulierung ein Ranking u.a. von BU-Versicherern erstellt wird. Soweit so begrüßenswert, denn dieser Beitrag zur Markttransparenz dürfte sowohl im Sinne der Kunden als mindestens auch im Sinne der Anbieter von ‚Pfirsichen‘ gemäß Akerlof – also von qualitativ hochwertigen BU-Policen – liegen.

Insofern scheint es zwecks Verstärkung und Weiterleitung dieses Signals ebenfalls der Transparenz förderlich, dass die jüngsten Untersuchungsergebnisse einen Artikel im ‚VersicherungsJournal‘ (VJ) v. 20. Januar des laufenden Jahres als Resonanzboden fanden: Unter dem Titel „Diese BU-Versicherer regulieren besonders fair“ wurde dort berichtet, aus der Studie von ServiceValue gehe hervor, dass „aus Kundensicht“ ein Drittel der bewerteten 36 BU-Anbieter „eine ‚sehr gute‘ Schadenregulierung“ bieten, ein weiteres Viertel sei mit ‚gut‘ bewertet worden. Eine satte Mehrheit hätte nach Kundenempfinden demzufolge eine mind. gute Leistungsregulierung vorzuweisen.

Strukturell anmutender Gleichklang der positiven Ergebnisse verwundert

Machen sich die angehenden BU-Kunden nun, ‚angefixt‘ von den guten Nachrichten, die Mühe einer Lektüre besagter Untersuchung als Primärquelle, dann dürften ihnen alsbald gewisse Regelmäßigkeiten in den Ergebnissen auffallen: So wurde in allen der 19 untersuchten Sparten je mind. knapp die Hälfte aller Anbieter als ‚gut‘ oder besser ausgezeichnet. Von diesen Anbietern wurde wiederum stets mindestens knapp die Hälfte sogar als ‚sehr gut‘ ausgezeichnet. Die Fachwelt staunt und die Laien wundern sich ob dieses geradezu strukturell anmutenden Gleichklangs der positiven Ergebnisse – wohlgemerkt hinweg über alle Sparten und Untersuchungsjahrgänge.

Bei genauerer Betrachtung des Bewertungsschemas wandelt sich die Verwunderung gleichwohl in konstruktionsbedingte Gewissheit, aber der Reihe nach: Laut ServiceValue erhalten alle Versicherer die Auszeichnung ‚gut‘, „die einen überdurchschnittlichen Wert innerhalb der Sparte erzielt haben. Unternehmen, die wiederum über dem Durchschnitt der mit ‚Gut‘ bewerteten Unternehmen liegen, erhalten ein ‚Sehr gut‘“ (Anm. d. Verf.: die restlichen Versicherer erhielten keine Auszeichnung/Bewertung). Zumindest bzgl. des quasi-gesetzmäßig positiven Bewertungsanteils lüftet sich hiermit der Schleier der Ungewissheit, denn diese Skalierung führt automatisch dazu, dass ein gewisser Anteil von Anbietern das Prädikat ‚gut‘ bzw. sogar ‚sehr gut‘ bekommt. Dabei ließe das angelegte Bewertungsschema – eine ordinale Einteilung in drei Gruppen aufgrund von Durchschnittsbewertungen – bestenfalls Aussagen über die qualitativen Bewertungsunterschiede zwischen den drei generierten Anbietergruppen zu, also im Sinne einer Rangfolge, aber ohne Informationen zum Qualitätsniveau.

Fair oder weniger unfair?

Statt der interpretierenden Überschrift des o.g. VJ-Artikels („Diese BU-Versicherer regulieren besonders fair“) könnte also ggf. genauso folgende Aussage wahr sein: „Diese BU-Versicherer regulieren weniger unfair“, denn welches Qualitätsniveau tatsächlich zutrifft, ist aus den veröffentlichten Ergebnissen schlechterdings nicht nachvollziehbar. Etwas überspitzt wäre also auch denkbar: Wer nicht ganz so schlecht wie der Durchschnitt der Konkurrenz zu seiner Kundschaft war, der kann mindestens die Auszeichnung ‚gut‘ erhalten. Bei sehr kundenunfreundlichem Verhalten der Konkurrenz könnten indes als ‚mittelmäßig‘ und ‚schlecht‘ erhaltene Kundenbewertungen sogar zur Auszeichnung mit ‚sehr gut' durch ServiceValue führen – also ohne überhaupt positive Bewertungen erhalten zu haben. Anzunehmen ist dieses fiktive Extremszenario kaum, aber ausgeschlossen werden kann es ebenfalls nicht, denn die tatsächlichen Bewertungen bleiben völlig im Unklaren.

Inflationäre Benotung

Die einzige Gewissheit bei der angelegten Methodik lautet: Sofern nicht alle Unternehmen von ihren Kunden gleich bewertet wurden, können die Prädikate ‚gut‘ und ‚sehr gut‘ zwangsläufig vergeben werden. Das nennt man in der Schule wohl „inflationäre Benotung“…

Das Vertrauen in den Transparenz-Mehrwert der Untersuchung wird darüber hinaus durch die zur Kundenbefragung verwendete Zustimmungsskala nicht gerade befördert: Bei drei positiven (‚ausgezeichnet‘ / ‚sehr gut‘ / ‚gut‘), einer neutralen (‚mittelmäßig‘) sowie einer negativen Antwortmöglichkeit (‚schlecht‘) handelt es sich um eine sog. Likert-Skala, die in der vorliegenden Konstruktion keineswegs symmetrisch balanciert ist. Dabei kann das Überangebot an positiven Antworten den Befragten das Gefühl vermitteln, dass die vermeintlich richtigen Antworten eher positiver Natur sind. Diese Unausgewogenheit kann das Antwortverhalten verzerrend beeinflussen. Zudem dürften dadurch nicht alle Befragten die Abstände zwischen den Skalenpunkten als gleich groß interpretieren, was die mögliche Aussagekraft weiter einschränkt.

Dabei wäre ein Zugewinn an kundenseitiger Transparenz speziell für den Bereich der BU-Versicherung durchaus wünschenswert, denn aus der existierenden Ungewissheit ergeben sich sowohl für den Vertragsabschluss als auch für einen etwaig nötigen Leistungsantrag Konsequenzen.

Mangelnde Angaben zur Mindeststichprobengröße

Viele Verbraucherinnen und Verbraucher berichten im Rahmen der Beratungsgespräche der Verbraucherzentralen, dass sie gar keine BU-Versicherung abschließen wollen, weil „die ja eh nicht leistet“. So pauschal kann man das zwar nicht sagen, aber aus den Beratungen ist bekannt, dass es immer wieder zu Problemen in der Leistungsfallabwicklung kommt. Nun hat die Umfrage von ServiceValue aber offenbar genug Verbraucher gefunden, die Aussagen zum Leistungsverhalten innerhalb der letzten drei Jahre treffen konnten und entsprechend „abgefragte Unternehmen … nur ausgewertet und dargestellt, wenn sie eine Mindeststichprobengröße … erfüllen.“ Bedauerlicherweise mangelt es der Studie jedoch an genaueren Angaben zur Mindeststichprobengröße, denn der geneigte Leser erführe gerne mehr bzgl. Größe und Zusammensetzung selbiger. Insbesondere angesichts der Tatsache, dass pro Jahr bundesweit nur ca. 60.000 BU-Leistungsanträge gestellt werden.

Was ist gutes Leistungsverhalten bei einer BU-Versicherung?

Ferner bedarf es zunächst einer Begriffsbestimmung dazu, was die Verbraucher eigentlich unter Leistung verstehen sollen. Es kommt immer wieder vor, dass Versicherungen eine Einmalzahlung zur Abgeltung aller Ansprüche anbieten – das auch gerne schnell. Ist das gutes Leistungsverhalten? Wünschenswert wäre zudem eine Differenzierung in Abhängigkeit davon, ob die Umfrageteilnehmer BU-Renten oder nur Beitragsbefreiungen im BU-Falle in ihren Verträgen vereinbart hatten. Des Weiteren bieten manche Versicherungen an, beim Leistungsantrag zu unterstützen. Empfindet das der Umfrageteilnehmer als gutes Leistungsverhalten? Der Verbraucherschützer betrachtet derlei Angebote mit einer gewissen Ambivalenz.

Fatale Signale durch positiv verzerrtes Labeling

Ein positiv verzerrtes Labeling könnte im Falle eines Leistungsantrags sogar individuell fatale Signale senden: Geht der Verbraucher von einer eher wohlwollenden Leistung aus, kann er übereilt einen Leistungsantrag stellen. Es geht jedoch in aller Regel um sehr hohe Geldbeträge, da ist Vorsicht und häufig auch eine unabhängig begleitete Antragstellung geboten.

Wie beschrieben geht die hier betrachtete Untersuchung, von der man sich ja mehr Markttransparenz erhoffen dürfte, leider konstruktionsbedingt mit zusätzlichem ‚Nebel‘ einher. Damit die im Rahmen der Studie verliehenen Auszeichnungen aber als ein zuverlässiges ‚Signal‘ zur Beseitigung von Informationsvorsprüngen dienen können, sollte auch nur der Anschein vermieden werden, dass qua Untersuchungsaufbau faktisch saure ‚Zitronen‘ als wohlschmeckende ‚Pfirsiche‘ deklariert werden könnten. An einem solchen Eindruck dürfte weder ein kunden- noch ein anbieterseitiges Interesse bestehen.


Literatur:

Akerlof, George (1970), The Market for Lemons: Quality Uncertainty and the Market Mechanism, in: The Quarterly Journal of Economics, Vol. 84, pp. 488-500.

o.V. (2022), Studie ‚Schaden- und Leistungsregulierung von Versicherern 2022 – Methode, Fragestellung, Auswertung‘, ServiceValue GmbH, Köln, Januar 2022, https://servicevalue.de/studien-tests/fairste-schaden-und-leistungsregulierer-2022/ (Abrufdatum 23.01.2022).

o.V. (2021), Studie ‚Schaden- und Leistungsregulierung von Versicherern 2021 – Methode, Fragestellung, Auswertung‘, ServiceValue GmbH, Köln, Januar 2021, https://servicevalue.de/studien-tests/fairste-schaden-und-leistungsregulierer-2021/ (Abrufdatum 23.01.2022).

o.V. (2020), Studie ‚Schaden- und Leistungsregulierung von Versicherern 2020 – Methode, Fragestellung, Auswertung‘, ServiceValue GmbH, Köln, Januar 2020, https://servicevalue.de/studien-tests/fairste-schaden-und-leistungsregulierer-2020/ (Abrufdatum 23.01.2022).

o.V. (2019), Studie ‚Schaden- und Leistungsregulierung von Versicherern 2019 – Methode, Fragestellung, Auswertung‘, ServiceValue GmbH, Köln, Januar 2019, https://servicevalue.de/studien-tests/schaden-und-leistungsregulierung-von-versicherern-2019/ (Abrufdatum 23.01.2022).

o.V. (2018), Studie ‚Schaden- und Leistungsregulierung von Versicherern 2018 – Methode, Fragestellung, Auswertung‘, ServiceValue GmbH, Köln, Januar 2018, https://servicevalue.de/studien-tests/schaden-und-leistungsregulierung-von-versicherern-2018/ (Abrufdatum 23.01.2022).

Wichert, Björn (2022), Diese BU-Versicherer regulieren besonders fair, in: VersicherungsJournal, Ahrensburg, 20.01.2022, https://www.versicherungsjournal.de/versicherungen-und-finanzen/diese-bu-versicherer-regulieren-besonders-fair-143941.php (Abrufdatum 23.01.2022).

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Arne Hansen

Über mich

Arne Hansen forscht und lehrt am Institut für Volkswirtschaftslehre der Helmut-Schmidt-Universität in Hamburg. Im Rahmen seiner Forschung befasst er sich u.a. mit der Krisenpolitik der Europäischen Zentralbank und beleuchtet die Eigenschaften und Auswirkungen des anhaltenden Niedrigzinsumfeldes. Den Versicherungssektor hat er hierbei stets im besonderen Fokus, zumal er von 2015 bis 2019 bei der Verbraucherzentrale Hamburg als Referent im Schwerpunkt-Team Versicherungen des ‚Marktwächters Finanzen‘ tätig war.