"Flexible Gestaltung von Einzahl- und Auszahlphase sollten bei der Altersvorsorge im Vordergrund stehen"
Dr. Christian Gülich ist EU Policy Officer beim BdV und Vize-Präsident von BETTER FINANCE, der Dachorganisation von nicht-staatlichen Verbraucherverbänden für Finanzdienstleistungen in den europäischen Staaten. Er ist zudem Mitglied der Insurance and Reinsurance Stakeholder Group (IRSG) der europäischen Aufsichtsbehörde für das Versicherungswesen und die betriebliche Altersversorgung EIOPA. Für das im Oktober 2024 erschienene Buch „Nachhaltig Investieren für Frauen“ von Janine Firpo hat Gülich das Kapitel „Altersvorsorge und nachhaltiges Investieren“ geschrieben.
Mit dem Buch „Nachhaltiges Investieren für Frauen“ möchte die Autorin Janine Firpo einen „neuen Investitionsansatz von Frauen für Frauen“ bieten. Warum spielen Werte beim Investieren gerade für Frauen offenbar eine besondere Rolle?
Christian Gülich (CG): Die Autorin ist US-Amerikanerin, und bekanntermaßen ist in den USA die Aktienkultur generell höher entwickelt als in Europa. Insofern legt die Autorin von vorneherein ein besonderes Gewicht auf den Aspekt der ökologischen und sozialen Nachhaltigkeit, um sich von der rein renditeorientierten Geldanlage abzugrenzen.
Sie macht einen Unterschied im Anlageverhalten von Frauen und Männern darin aus, dass Frauen „vorsichtiger und analytischer“ seien, während Männer „eher auf ihr Bauchgefühl vertrauen und Alleingänge wagen“. Sie möchte insbesondere Frauen ermutigen, sich eigenverantwortlich mit Geldanlage zu beschäftigen, denn selbst in den USA neigen noch immer zu viele Frauen dazu, das Thema entweder ihrem Lebenspartner zu überlassen oder zu stark einem professionellen Finanzvermittler zu vertrauen.
Deshalb betont sie: „Klug mit seinem Geld umzugehen, zu lernen, zu investieren und sein Vermögen zu vermehren, ist eine Übung. Und sie ist machbar.“ Auch mögliche Fehlentscheidungen sollten nicht entmutigen. Wichtiger ist es, sich über das eigene Anlageverhalten klar zu werden, und dafür stellt sie acht „finanzielle Archetypen“ auf, die als Orientierung dienen sollen. So legt etwa die „Wächterin“ zwar regelmäßig eine bestimmte Summe beiseite, ist aber zu vorsichtig, um eine höhere Rendite zu erzielen. Die „Idealistin“ dagegen steckt dagegen aus Überzeugung ihr Geld nur in Unternehmen, die sie als ökologisch oder sozial ausgerichtet einschätzt.
Das Buch ist also eine Aufforderung, eigene mögliche Hemmungen bei der Geldanlage zu überwinden und darüber hinaus zu überlegen, ob hierfür auch grundlegende ethische Überzeugungen mit einfließen können. Eine solche Herangehensweise kann genauso auch von Männern angewendet werden.
Gibt es hier länderspezifische Unterschiede beim Investieren? Insbesondere den Deutschen wird ja eine eher verhaltene Beziehung zu Aktien & Co. nachgesagt.
CG: Das ist sicherlich zutreffend im Vergleich zu den USA, aber viel weniger deutlich innerhalb der EU. Das Buch zeigt, dass hinsichtlich Finanzwissen in Europa die Niederlande, Schweden und Dänemark am besten abschneiden. Dennoch könnten in Europa insgesamt „fast zwei Billionen Euro“ frei werden für die kapitalmarkt- und werteorientierte private Geldanlage, wenn – bei etwa gleicher Sparquote wie in den USA – die Europäer*innen ihre Vorliebe für Bankeinlagen aufgeben würden.
Den meisten Kapiteln ist ein Abschnitt ein Blick nach Europa vorangestellt, in dem jeweils für das allgemeine Anlage- und Sparverhalten, aber auch für die einzelnen Anlageklassen (Sparkonten, festverzinsliche Wertpapiere, Einzelaktien, Anleihen, Investmentfonds / ETFs, alternative Anlagen, direkte Beteiligungen, aber auch Crowdfunding oder gemeinnützige Stiftungen) ein europäischer Vergleich erfolgt bzw. die wichtigsten rechtlichen Bestimmungen auf EU-Ebene dargestellt werden. Jede dieser Anlageklassen wird im Detail erklärt (Risikoeinstufung, Kosten, Wertentwicklungen und Vergleichsindizes, empfohlene Haltedauer bzw. Fälligkeit, Ratings u. a.), und es werden Adressen genannt für weitergehende Informationen. Diese allgemeinen Informationen werden jeweils ergänzt durch spezielle Abschnitte zum nachhaltigen Investieren mit konkreten Beispielen und Adressen (z. B. grüne Anleihen und Gefahren des Greenwashing, d. h. des öko-sozialen Etikettenschwindels).
Hier hat die Deutschen Schutzvereinigung für Wertpapierbesitz (DSW – Düsseldorf) eine vorbildliche Arbeit geleistet, denn für die deutsche Ausgabe ist das Buch komplett überarbeitet worden. Dasselbe gilt entsprechend für die französische, spanische und polnische Ausgabe, die von Autorinnen und Autoren in der jeweiligen Landessprache verfasst und alle gleichzeitig jetzt veröffentlicht wurden.
Für Frauen ist auch weiterhin die zusätzliche private Altersvorsorge wichtig, da ihre Erwerbsbiografien durch Carearbeit und Teilzeitbeschäftigung lückenhaft sind und die gesetzliche Rente dann oft nicht für einen auskömmlichen Lebensstandard ausreicht. Was sollten Frauen bei der Altersvorsorge beachten?
CG: In der privaten Altersvorsorge gilt generell, dass sowohl in der Einzahlphase als auch für die Auszahlphase auf eine größtmögliche Flexibilität geachtet werden sollte. Diese Voraussetzungen angesichts unsteter Erwerbsbiographien sind für Frauen aus den genannten Gründen noch wichtiger als für Männer. Deshalb ist der BdV gegenüber langlaufenden Rentenversicherungen äußerst skeptisch eingestellt (häufig dauert die Einzahlphase 20-30 Jahre und die Auszahlphase fast ebenso lang), was ich als Autor dieses Kapitels in dem Buch auch klar zum Ausdruck gebracht habe. Hinzukommen die weiterhin nicht ausreichend transparenten Kostenbelastungen und Gewinnbeteiligungen über einen so langen Zeitraum.
Aus Verbraucherschutzperspektive empfehlen wir die Trennung von Ansparen (für die Altersvorsorge) und Risikoschutz (z. B. Todesfall oder Pflege) durch separate Verträge. Aufgrund der Langfristigkeit des Ansparens kann auf Garantien während dieser Zeit verzichtet werden, um stattdessen z. B. in einen kostengünstigen, breit aufgestellten ETF zu investieren. Auch heftigere Kapitalmarktschwankungen können auf diese Weise einfach ausgesessen werden. Sicherheit beim Geldanlegen sollte nicht mit Garantien gleichgesetzt werden. Falls das Geld zwischendurch mal knapp wird, kann ein Fondssparplan jederzeit unterbrochen werden, ohne dass irgendwelche Zusatzkosten oder wie bei Lebensversicherungen sogar Stornogebühren anfallen.
Auch in der Auszahlphase sollte auf Flexibilität geachtet werden. Das Argument der Versicherer, nur eine lebenslange Verrentung biete den besten Schutz angesichts der steigenden Lebenserwartung, ist falsch. Frauen haben durchschnittlich eine höhere Lebenserwartung als Männer und können deshalb für solche Argumente besonders empfänglich sein. Dabei wird von Seiten der Versicherer aber nicht gesagt, dass wegen der steigenden Lebenserwartung die Auszahlungen auch besonders niedrig kalkuliert werden können. Dies bedeutet in vielen Fällen, dass ein Lebensalter bis weit über 90 Jahre erreicht werden muss, damit die Auszahlungen die Summe der eingezahlten Prämien übertreffen.
Als BdV unterstützen wir das Leitbild der mündigen Verbraucher, was bedeutet, dass, wer über 20 oder 30 Jahre regelmäßig für die eigene Altersvorsorge anspart, das Geld nicht in kürzester Zeit mit Beginn der Auszahlungsphase verjubelt. Stattdessen sollte z. B. ein Auszahlplan mit der Bank oder der Fondsgesellschaft vereinbart werden, durch den die Auszahlungen über einen Zeitraum von 25 Jahren oder mehr gestreckt werden können. Das müsste in den allermeisten Fällen ausreichend sein. Flexibilität in der Auszahlphase bedeutet darüber hinaus, wenn genügend Reserven vorhanden sind, Auszahlungen auch einmal aussetzen zu können, oder umgekehrt bei einem dringenden Notfall etwas stärker auf diese Rücklagen zuzugreifen. Diese Flexibilität sollte angesichts nicht vorhersagbarer wechselnder Lebensumstände gerade für Frauen besonders wichtig sein.
In dem Kapitel Altersvorsorge in diesem Buch werden alle in Deutschland vorhandenen Möglichkeiten der privaten, staatlich geförderten und betrieblichen Altersvorsorge vorgestellt und ihre Vor- und Nachteile abgewogen. Die Altersvorsorge wird insgesamt in die Pyramide der Vermögensbildung eingeordnet, in der sie sogar eine nachgeordnete Rolle gegenüber der Liquiditätsreserve für Notfallsituationen (Autoreparatur, neue Waschmaschine o. a.) oder für längerfristige geplante Ausgaben (Wohnungseinrichtung, Reisen, Umzug o. a.) einnimmt.
(Wie) Gehen Altersvorsorge und nachhaltiges Investieren zusammen?
CG: Das ist in der Tat eine knifflige Frage! Wenn der Aspekt der Nachhaltigkeit, wie in diesem Buch erläutert, in das Altersvorsorgesparen integriert werden soll, sollte vorher über folgende Punkte Klarheit bestehen.
Nachhaltigkeit ist bei Altersvorsorge nur ein zusätzlicher sekundärer Aspekt, denn das vorrangige Ziel von Altersvorsorge ist das langfristige Ansparen für ein Zusatzeinkommen im Ruhestand. Deshalb ist das Thema Nachhaltigkeit eher im Bereich Geldanlage und Vermögensbildung aufgehoben.
Finanz- und Versicherungsvermittler müssen vor Vertragsabschluss erfragen, ob Nachhaltigkeitskriterien bei angebotenen Finanzprodukten berücksichtigt werden sollen oder nicht. Nur wenn das von Kundenseite explizit mit „ja“ beantwortet wird, müssen weitere Informationen zur Verfügung gestellt werden.
Von der EU gibt es ein umfangreiches gesetzliches Regelwerk (Stichwort „Green Deal“) zur Berichterstattung und den Informationspflichten von Unternehmen, in die investiert wird, und von Finanzdienstleistern, die diese Investitionen vornehmen. Dieser gesamte Gesetzgebungsprozess ist bei weitem noch nicht abgeschlossen und muss sich in der Praxis erst bewähren, was in dem Buch näher erläutert wird.
Was schon bei der Geldanlage schwierig ist, ist es noch mehr in der Altersvorsorge. Deshalb lautet mein Rat, wie bereits angedeutet. Natürlich ist es möglich, z. B. nachhaltig-orientierte Fonds in eine Fondspolice mit einzubeziehen. Aber egal ob es aus Rendite- oder ethischen Gründen gemacht wird, in der Altersvorsorge sollte das ein nachgeordnetes Kriterium sein. Hier geht es vorrangig um den langfristigen Aufbau eines Guthabens, welches den individuellen Bedürfnissen entsprechend zu einem späteren Zeitpunkt zur Auszahlung kommen soll. Die Abwägung insbesondere von Sicherheit versus Rendite sowie der Notwendigkeit der flexiblen Gestaltung von Einzahl- und Auszahlphase sollten bei der Altersvorsorge im Vordergrund stehen.
Weiterführende Informationen:
Buchanzeige: https://www.lehmanns.de/shop/wirtschaft/68163593-9783527511938-nachhaltiges-investieren-fuer-frauen
Better Finance Press Release of 18 November 2024: New Book "Activate Your Money" Launched in Multiple Countries to Empower Female Investors.
https://betterfinance.eu/publication/pr-activate-your-money-book-launch/
Better Finance Public Event: Activate Your Money – Book Launch, 14 November 2024: https://betterfinance.eu/event/activate-your-money-book-launch/
BETTER FINANCE launched the localised and translated editions of Activate Your Money by Janine Firpo. Video of 14 November 2024: https://www.linkedin.com/posts/betterfinance4all_sustainableinvesting-retailinvesting-womeninvestor-activity-7263227468826734592-71h-
Invest for Better Climate (mehrsprachige Website): Werden Sie Teil einer Gemeinschaft, die die Welt durch werteorientiertes Investieren verändert. https://www.investforbetterclimate.eu/de/
Für eine kritische Einschätzung der Verknüpfung von Altersvorsorge und „grüner“ Geldanlage, vgl. Beitrag von Prof. Hartmut Walz vom 31.08.2023: Wie sinnvoll ist eine "grüne" Altersvorsorge?https://www.bundderversicherten.de/de/gut-beraten/ratgeber/2023-08-31-wie-sinnvoll-ist-eine-gruene-altersvorsorge-m2662.html