"Wir werden auch künftig solche Fitness-Tarife kritisch beobachten"
Der Bundesgerichtshof (BGH) hat zwei Teilklauseln der Berufsunfähigkeitsversicherung (BU) „SBU-professional Vitality“ der zur Generali gehörenden Dialog Lebensversicherung für unwirksam erklärt. Er folgt damit der Ansicht des Bund der Versicherten e. V. (BdV), dass die Klauseln des Fitness-Tarifs intransparent sind und die Versicherten unangemessen benachteiligen. BdV-Vorstandssprecher Stephen Rehmke erläutert die Hintergründe.
Der Bundesgerichtshof hat am 12. Juni 2024 ein Urteil zu einem Telematiktarif gefällt. Kläger war der BdV. Warum ging es genau?
Wir haben mit einer Klage auf Unterlassung Vertragsklauseln einer Berufsunfähigkeitsversicherung aus dem Generali-Konzern angegriffen. Dabei handelt es sich um einen Telematiktarif aus dem Vitality-Programm. Das sind Versicherungen, bei denen das Verhalten der Versicherten erfasst und auf dieser Basis die Höhe der Versicherungsbeiträge festsetzt.
Der Vitality-Tarif von Generali zielt auf die Gesundheits- und Fitnessdaten der Versicherten und richtet sich damit schon stark auf einen sehr persönlichen Lebensbereich. Das ist nicht unproblematisch. Die Verbraucherschutzministerkonferenz hat deshalb 2019 Maßnahmen zum Umgang mit solchen Telematiktarifen beschlossen. Richtig umgesetzt wurden die bisher nicht.
Mit unserer Verbandsklage wollten wir wenigstens für mehr Transparenz sorgen. Die Versicherungskundinnen und –kunden sollen klar erkennen und verstehen können, was sie bekommen, wenn sie dem Versicherer Informationen zu ihrer Gesundheit preisgeben. Sie sollen informiert entscheiden können, ob es ihnen wert ist, den Vertrag gegen eine lose Aussicht auf Rabatte abzuschließen.
Insofern begrüßen wir es sehr, dass uns nach den Vorinstanzen in München nun auch der Bundesgerichtshof Recht gegeben hat und die Vertragsklauseln als unwirksam beurteilt hat. Generali darf den Telematiktarif nicht mehr in der ursprünglichen Gestaltung verwenden und muss sich einen neuen Umgang mit seinen Vitality-Kundinnen und –kunden überlegen.
Was genau kritisiert der BdV an dem Vitality-Tarif der Generali?
Wir stoßen uns daran, dass Versicherte eine Reihe persönlicher Gesundheitsdaten an den Versicherer preisgeben, über den Gegenwert aber in die Irre geführt werden.
Der Tarif „SBU-professional Vitality“ der Dialog Lebensversicherung wird in Kombination mit dem „Vitality“-Gesundheitsprogramm des Versicherungskonzerns Generali abgeschlossen. Das Programm will angeblich gesundheitsbewusstes Verhalten belohnen. Wer das durch Fitnessdaten unter Beweis stellen kann, soll unter anderem Rabatte bei seinen Versicherungsbeiträgen bekommen.
Aber die Bedingungen sind undurchsichtig. Die Versicherten können gar nicht genau in Erfahrung bringen, welches konkrete Verhalten zu welchen tatsächlichen Vergünstigungen führt. Außerdem sind die persönlichen Fitnessleistungen gar nicht so ausschlaggebend. Maßgeblich ist, dass der Versicherer selbst fit genug ist und ausreichend Erträge - also Überschüsse - erwirtschaftet, die er dann als Rabatte an seine Kundinnen und Kunden weitergeben kann. Dass die auch gänzlich ausbleiben können, wenn er keine Überschüsse erzielt, verschleiert er.
Unfair ist auch, dass Versicherer sich ausbedungen hat, das gesundheitsbewusstes Verhalten nicht zu berücksichtigen, wenn er die Fitnessdaten zu spät geliefert bekommt. Egal, ob das die Kundin versäumt hat oder die Technik beim Versicherer versagt hat.
Wie steht der BdV denn ganz allgemein zu solchen Fitness-Tarifen?
Bekannt sind Telematiktarife, die ein bestimmten Verhalten fördern wollen, bisher vor allem bei Kfz-Versicherungen, die den Fahrstil bewerten. Versicherer zeichnen das Verhalten ihrer Kundinnen und Kunden auf, analysieren die Daten und belohnen verminderte Risiken mit Rabatten auf die Prämien. Letztlich wird damit die Idee der Schadensfreiheitsrabatte ausgedehnt, auch wenn die persönlichen Muster der Versicherten damit schon deutlich erkennbarer werden.
Der Vitality-Tarif von Generali zielt aber auf die Gesundheits- und Fitnessdaten der Versicherten und richtet sich damit schon stark auf den Bereich der persönlichen Lebensgestaltung. Er ist ein Datenschlucker von Gesundheitsinformationen. Das Preis- und Belohnungssystem ist undurchsichtig und das Programm womöglich auch mehr als nur ein bloßer Marketinggag.
Denn der Generali-Konzern hatte zur Zeit der Einführung des Vitality-Programms darüber nachgedacht, solche verhaltensbasierten Tarife auch in der privaten Krankenversicherung einzuführen. Bisher scheiterten solche Visionen unter anderem an einer hinreichenden Datengrundlage. Auch sind solchen Vorgehensweisen enge rechtliche Grenzen gesetzt.
Käme es dazu, würden in der Tendenz die Fitten und Gesunden belohnt, die Anfälligen und Kranken hätten das Nachsehen. Wir hielten das für eine fatale Entwicklung für den Solidaritätsgedanken bei Versicherungen, der davon getragen wird, dass die Starken die Schwachen unterstützen. Denn das Glück an Gesundheit kann sich für jeden Einzelnen auch plötzlich verflüchtigen, etwa nach einem Sportunfall. Fitness sollte im sportlichen Wettkampf zählen, aber nicht im Wettbewerb um die beste Krankheitsversorgung.
Auch deshalb haben wir einen skeptischen Blick auf das Vitality-Programm von Generali geworfen und die Missstände in den Bedingungen entdeckt, die uns zur Klage veranlasst haben.
Warum klagt der BdV in solchen Fällen?
Zum einen wollen wir mit diesem Verbandsklagefahren Verbraucherinnen und Verbraucher sensibilisieren.
Es ist problematisch, persönlichste Daten an Versicherer zu übermitteln, wenn man nicht einmal konkret weiß, was mit den Daten geschieht und was man davon überhaupt hat.
Zum anderen geht es um ein generelles Anliegen von uns: Versicherungen sind nur fair, wenn sie für die Verbraucherinnen und Verbraucher auch verständlich sind und sie nicht durch intransparente Darstellungen in die Irre geführt werden.
Wenn die Versicherer mit unserer Kritik nicht einverstanden sind, müssen die Gerichte entscheiden und die Verwendung nachteiliger Versicherungsbedingungen untersagen.
Ist das Urteil des BGH ein Überraschungserfolg?
Der BGH macht seit Jahren eine klare Ansage: Versicherer müssen die Rechte und Pflichten der Versicherungsnehmenden klar und durchschaubar darstellen. Sie müssen auch schon bei Vertragsschluss genau wissen können, in welchem Umfang sie Versicherungsschutz erlangen. Damit sollen sie sachgerecht entscheiden können, ob sie den Versicherungsschutz brauchen und den Vertrag abschließen wollen. Und angesprochen ist die durchschnittliche Kundin, sie muss dafür weder die Versicherungssprache beherrschen noch Juristendeutsch verstehen.
Unsere Klage und die Urteile der Vorinstanzen haben sich stark an diesen höchstrichterlichen Vorgaben orientiert und festgestellt, dass der Versicherer die Kriterien hier nicht eingehalten hat.
Die Darstellungen der Dialog Lebensversicherung, wie die Versicherten denn nun durch ihre Fitnessleistungen konkret profitieren können, sind viel zu verworren; die Kundinnen und Kunden können nicht nachvollziehen, wo sie das in einem Informationsblatt nachlesen oder im Bonusprogramm von Vitality als dem Vertragspartner von Dialog erfahren können oder in dem künftigen Geschäftsbericht, auf dem in den Versicherungsbedingungen verwiesen wird und auch nicht, was das Ganze mit der Überschussbeteiligung zutun hat und wie die nun wiederum ermittelt wird.
Ist nach dem Urteil trotzdem zu erwarten, dass weitere Tarife auf dem Markt kommen?
Richtig durchgestartet ist das Vitality-Programm nach unserer Beobachtung nicht. Generali macht allerdings auch keine Zahlen bekannt. Die App hat nur mittelprächtige Benutzerzahlen und Rezensionen. Die Website hält oberflächliche Informationen bereit und auf Instagram posten vereinzelte DVAG-‚Vermögensberater‘ ihre Trimm-Dich-Erfolge mit den Motivationssprüchen aus dem Vertrieblerseminar. Ähnliche Eindrücke haben auch unabhängige Fachmedien wie der „Versicherungsmonitor“ des Fachjournalisten Herbert Fromme. Es soll sich betriebswirtschaftlich kaum rechnen, die mit der Telematik verbundene Infrastruktur, das Controlling und die Produkt- und Technikentwicklung zu unterhalten und doch nur wenige Kundinnen und Kunden damit zu gewinnen.
Allerdings ist der Zuspruch in anderen Ländern wohl größer. Hinter dem Vitality-Programm steht die südafrikanische Gesellschaft Discovery. Deren Geschäftsmodell ist es, mit einem umfassenden Betreuungssystem rund um das Thema Gesundheit verschiedene Dienstleistungen des Versicherers und seiner Kooperationspartner anzubieten und als Rundum-Kümmerer Kundinnen und Kunden zu binden. Ähnliche Modelle haben unter anderem der chinesische Versicherungskonzern Ping An oder der britische Versicherer Prudential. Telematik-Tarife sind ein Baustein in dem Gesamtangebot.
Insofern werden wir auch künftig solche Fitness-Tarife kritisch beobachten.
Gibt es denn keine gesetzlichen Vorgaben für die Fitness-Tarife?
Es gibt zumindest keine Regeln, die speziell auf Telematiktarife ausgerichtet sind, die Daten zur Gesundheit von Versicherten erheben, verarbeiten und zur Bestimmung des Preises einer Versicherung heranziehen. 2019 hat sich eine Projektgruppe der Verbraucherschutzministerkonferenz damit befasst und auch einen Abschlussbericht erstellt. Sie hat eine Reihe von Empfehlungen ausgesprochen, die aber bislang noch nicht in die Umsetzung gegangen sind.
Die Arbeitsgruppe hat ähnlich wie wir die Vertragsbedingungen und Bewertungsverfahren als wenig transparent beurteilt. Sie hat auch den wirtschaftlichen Nutzen solcher Programme für die Versicherten angezweifelt angesichts des Aufwands, den man für einen höheren Fitness-Status betreiben muss. Sie konnte auch nicht die Annahme bestätigen, dass das Programm ein gesundheitsbewusstes Verhalten so dermaßen fördert, dass Berufsunfähigkeiten verhindert und die Ausgaben für Versicherungsleistungen gemindert werden können. Da Prämienermäßigungen aus Überschussbeteiligungen nach den gesetzlichen Vorgaben (§ 153 Abs.2 i.V.m. §§ 172, 176 VVG) aber verursachungsorientiert sein müssen, ist die versicherungsrechtliche Zulässigkeit solcher Tarife fraglich.
Die Verbraucherschutzministerkonferenz hat deshalb unter anderem empfohlen, solchen Fragestellungen etwa durch die Aufsichtsbehörde BaFin weiter nachzugehen und Leitlinien etwa zum Umfang der Datenerhebung und der Prämienvorteile, zur Erhöhung der Transparenz und auch dem Schutz vor Diskriminierung zu entwickeln.
Das sind kluge Ansätze, die man jedenfalls dann weiterverfolgen sollte, wenn Fitnesstarife wie Vitality doch wieder stärker in den Markt getrieben werden.